Scheitert Europa? Diese Frage erschien vor dem Jahr 2009 als völlig realitätsfern, denn die EU war ein Erfolgsprojekt, das zwar jede Menge Schwierigkeiten und dann und wann auch Rückschläge zu bewältigen hatte, aber scheitern? Unmöglich.
Mit dem 15. September 2008 änderte sich alles. Das globale Finanzsystem stürzte in seine schwerste Krise seit 1929, in deren Gefolge die Weltwirtschaft in eine neue Weltwirtschaftskrise abzukippen drohte, und es sollte gerade Europa sein, das sich dadurch plötzlich in einer bis heute anhaltenden Existenzkrise wiederfand. Seitdem ist die Gefahr des Scheiterns des europäischen Einigungsprojektes sehr konkret geworden. Europa erinnert an jemanden, der beim Überqueren eines Flusses von einer gewaltigen Flutwelle überrascht wird und blitzschnell entscheiden muss, ob er zurückschwimmen soll; ob er versuchen soll, dort zu bleiben, wo er ist und sich treiben zu lassen; oder ob er versuchen soll, das andere Ufer zu erreichen.
Die Krise hat seit 2009 die bestehende EU, ihre Machtverteilung und ihre Institutionen und Politiken mehr verändert, als es selbst eingefleischte Pro-Europäer für möglich gehalten hätten. Leider war diese Entwicklung krisen- und nicht strategiegetrieben, aber dennoch ist das Ergebnis positiv. Wichtiger aber noch ist es, dass diese Veränderungsdynamik einen machbaren Weg zur Vollendung der politischen Integration eröffnet hat, der jenseits der alten Pfade und Konfrontationen zwischen europäischen Föderalisten und Intergouvermentalisten liegt. Diesen Weg hin zu den Vereinigten Staaten von Europa aufzuzeigen und auszuformulieren, darum wird es in dem vorliegenden Buch vor allem gehen.
Joschka Fischer, geboren 1948, war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. Er gehört zu den Gründern der Partei Die Grünen und zu den wichtigsten deutschen Politikern seiner Generation.