Inwiefern sind Internet und Demokratie vereinbar? Was passiert, wenn das Volk alle grundlegenden politischen Entscheidungen in direkter Abstimmung trifft? Was bedeutet überhaupt direkte Demokratie? Es gilt, den geforderten Demokratiebegriff der Antipolitischen zu hinterfragen.
Saint Victor analysiert den Zusammenhang zwischen antipolitischen Strömungen und deren Forderungen nach einer direkten Demokratie mittels des Web 2.0. Er beschreibt die Gefahren, die entstehen, wenn direkt heißen soll, die repräsentativen Instanzen auszuschalten, insofern noch über die partizipative Demokratie hinausgehen zu wollen. Die Folgen wären eine Klick -Demokratie, die in Zuspitzung auch in eine Diktatur der Mehrheit münden kann. Es ist nur ein kleiner Schritt von der direkten Demokratie zur direkten Demagogie. Die vielbeschworene Schwarmintelligenz, so Saint Victor, ist unkontrollierbar affektaffin, eine Masse bewege sich emotiv und somit strukturell explosiv gewalttätig. Man muss es nicht so polemisch radikal formulieren wie Julian Assange, der sagte: Facebook ist die postmoderne Version der Stasi ; dennoch führt Saint Victor aus, dass die von den antipolitischen Netzaktivisten befürwortete totale Transparenz leicht in einem Überwachungsstaat und die Antipolitik à la Beppe Grillo und seiner europäischen Mitstreiter in einem System der Autokratie enden kann, wenn man das Konzept zu Ende denkt. Eine These von Saint Victor könnte man also verkürzend so zusammenfassen: Was als (zumindest potenziell) fortschrittliche Antipolitik auftritt, ist eigentlich eine Entpolitisierung, die neue Unterdrückungsformen ermöglicht und fördert. Saint Victor malt in seinem Essay nicht den Teufel an die Wand, auch überschätzt er die Antipolitischen nicht, ebenso wenig übersieht er unkritisch die Mängel einer repräsentativen und partizipativen Demokratie. Aber er nimmt die Antipolitischen ernst, als strukturelles Phänomen, und stellt die so schön klingende Forderung nach einer direkten Demokratie mittels der Errungenschaften des Web 2.0 auf den Prüfstand.
Autorenportrait:
Raymond Geuss, Professor für Philosophie an der University of Cambridge seit 2007. Raymond Geuss Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.