0 0 0

Gesammelte Prosa

Erstmals in einem Band: die gesammelte Prosa von Sarah Kirsch. Sarah Kirsch zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Seit sie in den sechziger Jahren mit Gedichten und Prosa hervorgetreten ist, gilt ihr die Aufmerksamkeit von Lesern und Kritik. Marcel Reich-Ranicki etwa pries sie als der Droste jüngere Schwester. Diese schön gestaltete und preiswerte Ausgabe der Gesammelten Prosa lädt zum Wiederlesen und Neuentdecken ein.

Verlag DVA
ISBN 9783421042217
2006

Erscheinungsdatum: 14.08.2006 . 736 Seiten. 21.5 x 13.5 cm . Hardcover .

Hardcover

lieferbar innerhalb von 10 Werktagen
Über den Artikel

Erstmals in einem Band: die gesammelte Prosa von Sarah Kirsch. Sarah Kirsch zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Seit sie in den sechziger Jahren mit Gedichten und Prosa hervorgetreten ist, gilt ihr die Aufmerksamkeit von Lesern und Kritik. Marcel Reich-Ranicki etwa pries sie als der Droste jüngere Schwester . Diese schön gestaltete und preiswerte Ausgabe der Gesammelten Prosa lädt zum Wiederlesen und Neuentdecken ein.

Leseprobe:
Merkwürdiges Beispiel weiblicher Entschlossenheit / / Frau Schmalfuß war 28 und hatte immer noch kein Kind. Das hatte folgende Gründe: Eine landläufige Meinung besagt, jede Frau habe sechs kleine Schönheiten. Diese Aussage scheint statistisch nicht ungesichert, trifft aber, wie alle statistischen Aussagen, nicht auf jeden Einzelfall zu. Frau Schmalfuß verfügte über vier Schönheiten: 1. schräggeschnittene Augen, deren äußere Winkel sich bis unter den Haaransatz zogen, 2. Hände, die gemalt zu werden verdient hätten, 3. ein Hinterteil hübscher ausgewogener Rundung, 4. die Beine. Leider endeten die Beine rechtwinklig in langen, breiten, flachen (nicht platten) Füßen. Obwohl die vier Schönheiten, jede einzeln, den Neid mancher Geschlechtsgenossin hervorzurufen geeignet waren und ab und an ihn auch hervorriefen, war doch ihre gegenseitige Zuordnung derart ungünstig und die Entfernung der einen Schönheit von der anderen so beträchtlich, daß die störenden Elemente zwischen ihnen sie verdunkelten und die Blicke abstießen, die, wenn sie länger verweilt hätten, der Schönheiten innegeworden wären. Deshalb hatte Frau Schmalfuß zeit ihres Lebens mit keinem Manne näheren Umgang anknüpfen können. Die Vorzüge eines Menschen müssen nicht ausschließlich physischer Natur sein. Frau Schmalfuß bekam die Achtung, die Kollegen und Mitarbeiter ihr für ihre Arbeitsleistung und ihr kollegiales Verhalten zollten, regelmäßig zu spüren. In der Kantine hieß es: Alle Achtung, wie die sich zusammennimmt! Oder: Der wäre etwas mehr Glück zu gönnen gewesen! Manchmal, in unbewachten Augenblicken, an Sommerabenden auf dem Heimweg oder unter der Dusche, gestand sie sich, weniger Achtung wäre ihr lieber; einmal, sie ging durch die Schrebergärten, beschimpfte hinter einer Fliederhecke ein offensichtlich angetrunkener Alter seine Frau: Mit der hätte sie, für den Bruchteil einer Sekunde, tauschen mögen. Aber sie hatte sich fest in der Hand und suchte das Glück in der Arbeit. In ihrem Korridor hingen Urkunden, die sie als Sieger in Wettbewerben, Aktivistin und Teilnehmerin mehrerer Lehrgänge auswiesen. Der Umstand, daß sie unbemannt und noch ohne Kinder war, ließ sie ihren Kollegen, ohne daß sie es sich lange überlegt hätten, besonders geeignet erscheinen, sie in haupt- und ehrenamtlichen Funktionen zu vertreten. Bei allen gesellschaftlichen Anlässen hörte man ihren Namen nennen, sie Auskunft geben, und auf den Betriebsweihnachtsfeiern beschenkte sie seit vielen Jahren als Knecht Ruprecht die Kinder der verschiedenen Abteilungen. Sie erfüllte alle ihr aufgetragenen Aufgaben gewissenhaft und ohne für sich einen Vorteil herauszuschlagen. Im März des vergangenen Jahres zog sie ihren weiten Kamelhaarmantel an, den sie trug, wenn sie im Namen des Frauenausschusses Wöchnerinnen besuchte, und fuhr mit der Linie 17 in die Vorstadt. Als sie sich des Päckchens entledigt hatte, selbstgestrickte winzige Handschuhe beigab und wieder auf dem schmalen Zementweg stand, der zwischen Häusern und Gärten sich / durchfädelte, war sie eigenartig bewegt. Die Schneeglöckchen schaukelten, die Schwertlilien hoben die Erde an, den kahlen Bäumen rann das Wasser die Stämme entlang, schwarze Wolken rasten im Wind auf die Antennen zu, und mitten in dieser aufgewühlten fröhlichen Landschaft hätte sie gern einen kleinen weißen Kinderwagen gesehen und sich selbst als seine Fahrerin gefühlt: mit noch geschwächten Knien von der vorangegangenen Entbindung, mit einem wohlig schmerzenden Rücken, seis nun vom Stillen oder dem täglichen Wäschewaschen. Solche Bilder stellten sich von der Zeit an öfter vor ihre Augen. Sie schaute in jeden Kinderwagen und war einerseits befriedigt, wenn so ein ganz Kleines tief unten, in seiner Höhle geschützt, nur zu vermuten war, andererseits ärgerte es sie, daß sich der Gegenstand ihrer Neigung so vor ihr verbarg. Als sie sich ihres Zustandes, welcher ja nur ein psychischer und kein physi

über die Autoren
Sarah Kirsch

Sarah Kirsch (1935-2013), geboren in Limlingerode am Harz, studierte Biologie und Literatur und lebte bis zu ihrer Ausbürgerung 1977 im Osten Berlins, siedelte dann in den Westen der Stadt über. 1981 zog sie in den Norden Deutschlands, wo sie bis zu ihrem Tod als freie Schriftstellerin und Malerin in Tielenhemme, Schleswig-Holstein, lebte....

>> weiterlesen